Es war ein Experiment, von dem niemand wusste, wie es herauskommen würde. Ein Experiment, das die Athleten dankbar aufnahmen. Nach der langen Zeit der Ungewissheit erhielten sie endlich wieder ein Ziel, endlich wieder eine Möglichkeit, sich in einem internationalen Wettkampf zu messen – begleitet von der ganzen Nervosität, Aufregung und dem Adrenalin, die mit dem Anbringen der Startnummer einhergehen. Oder wie es der Dreispringer Christian Taylor im Vorfeld der Inspiration Games formulierte: «Wir sind Wettkämpfer. Also werden wir leidenschaftliche Wettkämpfe liefern.» Und das taten sie.
150 m Frauen: Allyson Felix zum Ersten
Es handelte sich um einen historischen Moment, ja um eine Weltpremiere, als sich Mujinga Kambundji (SUI), Shaunae Miller-Uibo (BAH) und Allyson Felix (USA) um 20.10 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Zürich, Bradenton (Florida) und Walnut (Kalifornien) in den Startblock knieten. Neun Stunden Zeitverschiebung lagen zwischen ihnen und doch erfolgte der Startschuss für die drei Sprinterinnen exakt gleichzeitig. 150 m und 16,81 Sekunden später löste Felix die Lichtschranke im Ziel als Erste aus. Nach knapp zwei Minuten waren die Bilder synchron geschaltet und im TV via Splittscreen auf der ganzen Welt zu sehen. «Das machte Spass, ich kann es kaum erwarten, bis wir wieder persönlich gegeneinander laufen», meinte die sechsfache Olympiasiegerin und zwölffache Weltmeisterin Felix mit Blick auf ihre virtuellen Gegnerinnen, von denen die Schweizer WM-Bronzemedaillengewinnerin Kambundji (17,28) die grösste Unterstützung genoss. «Das Publikum war wirklich laut im Letzigrund, aber mir fehlten in meinem ersten Rennen seit den Weltmeisterschaften in Doha die Konkurrentinnen links und rechts neben mir.»
100 Yards Männer: Andre De Grasse gewinnt Duell der Trainingskollegen
Die selten gelaufenen 100 Yards bildeten die Ausnahme der Inspiration Games. Denn Andre De Grasse (CAN), Jimmy Vicaut (FRA) und Omar McLeod (JAM) gehören derselben Trainingsgruppe an und trugen in Bradenton gewissermassen ein internes Duell aus. Der Vergleich ging an den mehrfachen Olympia- und WM-Medaillengewinner De Grasse in 9,68 Sekunden, der sich noch etwas «eingerostet» fühlte: «Die vergangenen Monate waren wirklich hart. Wir mussten sehr erfinderisch sein, trainierten mal auf dieser, mal auf jener Leichtathletik-Bahn, bis wir weggejagt wurden – dann wieder auf einem Fussballfeld zusammen mit den örtlichen Kids, je nachdem, was möglich war.»
200 m Männer: Noah Lyles auf einer eigenen Distanz
Sportliche Schockstarre nach der Corona-bedingten Schockstarre: Als Noah Lyles im blauen Dress über die ebenso blaue Bahn der IMG Academy in Bradenton flog und sich ins Ziel warf, blieb die Zeit bei 18,90 Sekunden stehen. Das wäre Weltrekord gewesen. Die Auflösung kam nach ein paar Minuten. Der 200-m-Weltmeister wurde irrtümlicherweise von der falschen Marke aus ins Rennen geschickt und absolvierte lediglich 186 Meter, eine weitere ungewöhnliche Distanz anlässlich der Inspiration Games. Lyles nahm es denn auch mit Humor: «Das Rennen fühlte sich trotz des starken Gegenwindes technisch gut an.» Den Sieg erbte Christophe Lemaitre (FRA) in 20,65 Sekunden, der einzige Nichtschweizer Starter im Stadion Letzigrund.
300 m Hürden Frauen: Georganne Moline vor Lea Sprunger
Im Gegensatz zu Georganne Moline (USA) und Zuzana Hejnová (CZE) konnte Lea Sprunger (SUI) dieses Jahr anlässlich der Impossible Games in Oslo bereits Erfahrungen über die 300 m Hürden sammeln. Sie wusste also, wie es ist, in einem leeren Stadion zu laufen. Umso erstaunter war die WM-Vierte, als sie auf die Zielgerade einbog: «Die lautstarken Fans haben mir wirklich geholfen, in den Wettkampfmodus zu kommen.» Im Ziel resultierte Rang 2 in 39,25 Sekunden, knapp geschlagen von der zweifachen Diamond-League-Meetingsiegerin Moline (39,08). Für die Schweizer Rekordhalterin ein «Schritt vorwärts» gegenüber ihrem Auftritt in Oslo, wo sie noch mit 39,86 zu Buche gestanden hatte.
Stabhochsprung Frauen: Sandi Morris dank Kreativität
Die Inspiration Games boten Sandi Morris (USA) die erste Startgelegenheit seit dem Lockdown. Und sie kostete den Wettkampf aus. Als Letzte stieg sie auf der Höhe von 4,56 m ein und gewann die Konkurrenz mit ihrem ersten Sprung. Nach einem weiteren gültigen Versuch auf 4,66 m, bedeuteten 4,76 m Endstation. «Es war härter als erwartet, aber ich denke, eine meiner grossen Stärken ist, dass ich sehr kreativ bin.» Eine Stärke, die sich die Hallenweltmeisterin während der letzten Monate zu Nutze machen konnte.
Stabhochsprung Männer: Sam Kendricks glänzt ohne Rost
«Der erste Sprung ist immer sehr nervenaufreibend», schickte Sam Kendricks (USA) vor seinem Wettkampf voraus, «aber er ist auch der Sprung, der einem am Herzen liegt, für den man am meisten trainiert.» Der zweifache Weltmeister hat zuletzt offensichtlich gut trainiert und den «Rost», wie er es nennt, abgestreift. In Bradenton übersprang er die Latte zuerst auf 5,36 m, um sich nachher bis auf 5,81 m zu steigern. Der letztjährige Diamond-League-Champion nahm die Inspiration Games zum Anlass, «Hindernisse zu überwinden» und bezog sich damit nicht nur auf die Distanz, sondern auch auf das «Verlassen der eigenen Komfortzone».
Dreisprung Männer: Pedro Pablo Pichardo Bester unter den 17-m-Springern
«Wir Athleten können der Welt zeigen, wie man in einer schwierigen Situation das Beste draus macht», hatte Christian Taylor anlässlich der virtuellen Medienkonferenz betont. In Bradenton ging der zweifache Olympiasieger und vierfache Weltmeister mit gutem Beispiel voran. Obwohl er mit den windigen Verhältnissen zu kämpfen hatte, verbesserte er sich gegenüber seinem Testwettkampf (16,75 m) vor einer Woche und übertraf die 17-m-Marke (17,27 m). Das Gleiche gelang Omar Craddock (USA/17,04 m) in Walnut und Pedro Pablo Pichardo (POR/17,40 m) in Lissabon. Der portugiesische Sieger mit kubanischen Wurzeln vermisste im ungewohnten Fernduell einerseits die Emotionen, freute sich andererseits, seine Disziplinenkollegen zumindest über den Bildschirm zu sehen.
3x100 m Frauen: Allyson Felix zum Zweiten und Dritten
Die erfolgreichste Leichtathletin aller Zeiten erwies sich auch als erfolgreichste Teilnehmerin der Weltklasse Zürich Inspiration Games. Nach dem Sieg über 150 Meter reüssierte Allyson Felix ebenfalls mit ihren Staffelkolleginnen Candace Hill und der dreifachen Olympiasiegerin Tianna Bartoletta über 3x100 m (32,25). Obendrein gewann die Mutter einer zweijährigen Tochter auch die Teamwertung mit der Auswahl «Nordamerikas» und fasste die Inspiration Games so zusammen: «Wir haben gesehen, welche positive Kraft der Sport entfacht, und wie wichtig es ist, Menschen zu vereinen und zusammenzubringen. Darum ging es heute.»
Never stop getting better
Noch mehr: Die Weltklasse Zürich Inspiration Games vermochten eine Verbindung zu schaffen von der Sprintikone und Rekordweltmeisterin im 10 000 Kilometer entfernten Kalifornien über Mujinga Kambundji, die Schweizer Sportlerin des Jahres, im Stadion Letzigrund bis zur Nachwuchsathletin. Deren Idole haben einem weltweiten TV-Publikum eindrücklich offenbart, dass es sich lohnt, auch alleine und unter erschwerten Bedingungen zu trainieren, Träume zu haben und nie aufzuhören, noch besser zu werden. Never stop getting better. Es ist diese Maxime, die Weltklasse-Athleten verkörpern und die DNA von Weltklasse Zürich ausmacht.
Finalgastgeber der Wanda Diamond League 2021/2022
Weltklasse Zürich hat nach dem Lockdown nicht resigniert, sondern inspiriert – und wird weiter inspirieren. Als Gastgeber des Finals der Wanda Diamond League 2021 und 2022 planen die Organisatoren ein buchstäblich «bahnbrechendes» Leichtathletik-Spektakel mit 24 Entscheidungen an drei Tagen und drei Standorten: auf dem Zürcher Sechseläutenplatz, im vibrierenden Hauptbahnhof und im legendären Stadion Letzigrund am Freitagabend, 10. September 2021. Dann hoffentlich wieder mit stimmungsgeladenen Direktduellen vor ausverkauften Rängen. Auf dass die Inspiration Games als einmaliges Ereignis in die Sportgeschichte eingehen. Ein Meeting, an das sich die 28-jährige Sandi Morris noch erinnern wird, «wenn ich 80 Jahre alt bin.» Was für ein «Souvenir»!
09 July, 2020