Im letzten Jahr lief die 23-Jährige noch um den US-Studentenmeistertitel und qualifizierte sich als Aussenseiterin überraschend für die Weltmeisterschaft: „Damals war ich ein Nobody“, stellt sie fest. Das hat sich komplett geändert. In diesem Sommer ging es in ihrer ersten Saison als Profi steil bergauf, bis auf den Thron der neuen Weltrekordhalterin.
Die Diamond League wurde in den letzten Monaten zu ihrem Revier. Beim grossen Finale im Stadion Letzigrund kann Kendra Harrison am Donnerstag eine weisse Weste beibehalten. Fünfmal ging sie im Rahmen der Serie an den Start, bei allen fünf Meetings verliess sie das Stadion als Schnellste und mit weiteren zehn Punkten auf der Habenseite. Höhepunkt war ihr Rennen in London, bei dem sie mit 12,20 Sekunden den 28 Jahre alten Weltrekord der Bulgarin Yordanka Donkova aus den Rekordbüchern löschte.
Damit liegt sie im Diamond Race mit 50 Punkten bereits uneinholbar in Führung und wenn sie am Donnerstagabend im Letzigrund die mit 40.000 US-Dollar dotierte Diamond Trophy in Händen hält, hat sie ein grosses Ziel in dieser Saison erreicht.
Verpasste Olympia-Qualifikation verarbeitet
Überhaupt war es eine erfolgreiche, aber auch eine Saison, in der sie Lehrgeld zahlte. Vor ihrem Weltrekord hatte Kendra Harrison nämlich die Olympia-Qualifikation verpasst. Nur Platz sechs sprang bei den US-Ausscheidungen heraus.
Ausgerechnet in diesem wichtigen Rennen kassierte Kendra Harrison die einzige Niederlage des Jahres. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir das nicht wieder passieren wird“, ist sie inzwischen überzeugt. Damit hat sie diesen Rückschlag schon ein Stück weit verarbeitet.
Kendra Harrison von Sally Pearson inspiriert
An der University of Kentucky trainiert sie nach wie vor auch als Profi mit den Athletinnen des College-Teams und sieht darin sogar ein Erfolgsgeheimnis: „Wir pushen uns gegenseitig“, stellt sie fest, „wenn ich einen schlechten Tag habe, dann weiss ich, dass diese Girls alles geben, um mich zu schlagen.“ Darüber hinaus steht Kendra Harrison als Assistant Coach aber auch den jüngeren Athletinnen mit Rat und Tat zur Seite und rückt in die Rolle eines Vorbilds.
Ein Vorbild spielte auch bei ihr selbst eine grosse Rolle. Die London-Olympiasiegerin Sally Pearson war es, von der Kendra Harrison gemeinsam mit ihrem Coach Videomaterial parallel zu ihrem eigenen analysierte und sich so einiges abschaute. „So habe ich meine Form immer mehr verbessert“, sagt die US-Amerikanerin. Sie konnte auch einen eigenen Stil entwickeln, der heute viele erstaunt: „Jede hat ihre ganz eigene Technik“, stellt Kendra Harrison bescheiden fest.
Ambitionen auch auf den 400 Meter Hürden
Diese herausragende Technik könnte sie mit Blick auf die nächsten Jahre noch an anderer Stelle einsetzen. Kendra Harrison, die adoptiert wurde und mit zehn Geschwistern aufwuchs, rechnet sich nämlich auch auf den 400 Meter Hürden etwas aus, würde ihre Bestzeit von bereits 54,09 Sekunden gerne noch weiter steigern und auch dort an der Weltspitze mitmischen.
Es wäre ein ausgesprochen seltenes Doppel über die beiden Hürdenstrecken. Überrascht sollte aber niemand mehr sein, wenn die nur 1,63 Meter grosse Athletin bei einer der nächsten Auflagen von „Weltklasse Zürich“ dann auf die Stadionrunde gehen wird.
Zunächst einmal ist für den Donnerstag aber alles dafür angerichtet, dass Kendra Harrison als strahlende Diamond Trophy-Gewinnerin auf dem Podest steht und damit den nächsten Schritt in ihrer bereits jetzt herausragenden Karriere vollendet.